Komische, undurchschaubare Deutsche:
Zuerst bringen sie unter Aufwendung ihres ganzen
Talents fast alle Juden um - und dann tut es ihnen
auch noch leid. Ich meine, wer hätte es
von ihnen wirklich erwartet, daß sie noch
fünfzig Jahre nach der überstürzten Schließung von
Auschwitz den Tod von ein paar Millionen Leuten,
mit denen sie außer einem ziemlich alten
Testament kaum etwas verband, so inbrünstig
beweinen würden, als hätte man ihren
eigenen Eltern etwas angetan? Pol Pot, Enver Pascha
und Radovan Karadzic" ganz
bestimmt nicht. Und ich? Ach, wer fragt mich denn
schon...
Ich will trotzdem darüber reden. Genau jetzt,
in diesem Moment, an diesem dunklen,
nassen, schweren Novembertag, an dem Worte wie "Trauerarbeit",
"Vergangenheitsbewältigung" und "Nie wieder"
sich in meinen Kopf drängen, ohne daß ich
selbst sie gedacht hätte. Es sind ja auch nicht
meine Worte, sie kommen von draußen, aus
Leitartikeln und Gedenkreden, aus Fernsehansprachen
und Grußadressen, es sind Worte,
die ich in meinem Leben inzwischen öfter gehört
habe als "danke" und "bitte", Worte, die
jedesmal so ernst und anrührend ausgesprochen
werden, daß ich sie - und das ist das
Schlimmste an ihnen - auch noch glauben muß.
Richtig: Ich bin genervt. Denn etwas stimmt an dieser
endlosen Bewältigungsarie nicht,
etwas ist absolut undurchschaubar daran, wenn Deutsche
ständig von neuem mit
leuchtenden SektenMitglieder-Augen die Kristallnacht
zelebrieren, wenn sie mit wirren,
heiligen Argumenten für ein Holocaust-Denkmal
streiten oder mit flagellantenhaft-offener
Brust Goldhagens Peitschenhieb-Thesen entgegennehmen
- etwas ist faul, wenn sie sich
immer und immer wieder auf diese offene, exhibitionistische
Art an etwas berauschen, das
jedem anderen Volk dieser Welt so peinlich wäre,
daß es alles dafür täte, es vergessen zu
machen.
Wollen Sie wissen, was die ganze Sache so zwielichtig
macht? Ihr wahres Motiv. Natürlich
erklären Deutsche jedesmal, wenn sie zu ihrem
Gott Holocaust beten, sie müßten es
deshalb tun, damit so etwas kein zweites Mal passiert.
Nett gelogen, Land von Mölln,
Rostock und Hoyerswerda! Wenn sie dann aber auch
noch erklären, sie, die Jungen,
Neuen, Anderen, fühlten sich für die Taten
ihrer durchgedrehten Omas 'n' Opas
verantwortlich, glaube ich ihnen überhaupt
kein Wort. Denn das ist genauso absurd, als
wenn heute ein Jude sagen würde, er war vor
dreitausend Jahren Sklave in Ägypten.
Ich weiß, das sagt er ja auch, an Pessach,
Jahr für Jahr. Er sagt es aber nicht, weil ihm
etwas leid tut, sondern weil er so mit der Geschichte
seines Volkes verschmelzen kann -
und damit auch mit seinem Volk. Sagen Deutsche also
in Wahrheit vielleicht aus dem
gleichen Grund immer wieder "Ich war Aufseher in
Treblinka" oder "Ich habe geschwiegen,
als die Familie Levi verschwand"? Ich glaube, ja.
Aber sie würden es niemals zugeben. Nur
ganz selten rutscht es ihnen heraus, so wie dem
immer etwas pathetisch auftretenden
Soziologen Ulrich Beck, der schon mal ganz verzückt
von "Auschwitz als deutscher Identität"
redet, oder dem wesentlich dezenteren ZEIT-Redakteur
Gunter Hofmann, der, auf der
Suche nach möglichen "nationalen Grundsubstanzen",
herausfindet: "Das Verbindende und
Tragfähige muß zuallererst aus einem
Verantwortungsgefühl für die eigene Geschichte,
zumal auch für die zwischen 33 und 45, erwachsen."
Das Holocaust-Trauma als Mutter eines endlich gefundenen
deutschen
Nationalbewußtseins? Was sonst! Was sonst
als diese unglaubliche, unerhörte Tat - sowie
ein noch nie dagewesener Weltkrieg - schenkte diesem
seit Jahrhunderten geographisch,
geistig und mental uneinigen, unfertigen Volk von
einem Tag auf den andern den großen
nationalen Topos, den Schlüsselbegriff, der
alle, egal ob Linke oder Rechte, Bayern oder
Friesen, Aufklärer oder Romantiker, mit einer
solchen Wucht und Gewalt zusammenband
wie kein Goethestück, kein Hambacher Fest,
keine Bismarckverordnung vorher. Und darum
also lieben die Deutschen den Holocaust so - vor
allem die, die immer wieder sagen, daß
sie von ihm nichts mehr hören wollen.
Ich, persönlich, kann den Holocaust nicht leiden.
Aber an einem solchen dunklen, nassen
Novembertag kann ich die Besessenheit der Deutschen
damit fast verstehen. Sie sollten
nur endlich ehrlich zugeben, was sie von den toten
Juden wollen - und begreifen, daß eine
freundliche, offene Nation nie aus dem Horror entstehen
kann, sondern nur aus einem
Traum.
(C) DIE ZEIT/Ausgabe Nr. 46 vom 08.11.1996
(c) beim Autor/DIE ZEIT. All rights reserved |