Prolog
In Einsteins Nachlass fand sich ein kleines Gedicht:
"Unbehaglich macht mich stets das
Woertchen 'wir', / Denn man ist nicht eins mit einem
andern Tier, / Hinter allem
Einverstaendnis steckt / Stets ein Abgrund, der
noch zugedeckt." (ROGER HIGHFIELD,
PAUL CARTER: Die geheimen Leben des Albert Einstein.
Berlin 1994)
Rueckblick
Wenn wir in wenigen Jahren die Akte ueber dieses
Jahrhundert schliessen, dann wird aller
Voraussicht nach ein sehr ambivalentes Gefuehl unser
rueckblickendes Urteil bestimmen.
Da ist vor allem das unstillbare Entsetzen ueber
totalitaere politische Ordnungen, in deren
Namen unzaehlige Menschen geschunden und ermordet
wurden. Aber da ist auch die
vorsichtige Hoffnung auf die Entwicklung und Festigung
von demokratischen Ordnungen,
von Ordnungen, in denen Buerger sich als Gleiche
wechselseitig anerkennen. Beides,
dieser aeusserste Schrecken wie diese schwache Hoffnung,
entspringt der Erfahrung eines
Jahrhunderts, das unaufhaltsam modern darin geworden
ist, dass keine Zukunft und
Vergangenheit der Politik mehr ihre Grenzen vorzeichnen.
Dass diese politische
Ambivalenz der Moderne im gegenwaertigen Deutschland
in besonderer Schaerfe
empfunden wird, ist nicht selbstverstaendlich. In
der unmittelbaren Nachkriegszeit standen
die totalitaere Gewaltherrschaft und die Demokratie
als historische Ereignisse im
Bewusstsein der Deutschen unverbunden nebeneinander.
Erst im Verlauf der weiteren
Geschichte der Bundesrepublik traten die oeffentliche
Erinnerung des
nationalsozialistischen Terrors und die allmaehliche
Demokratisierung der Gesellschaft in
ein Verhaeltnis zueinander. Einige Aspekte dieses
widerspruechlichen, konfliktreichen und
historisch offenen Verhaeltnisses moechte ich im
folgenden beschreiben.
Im Winter 1959/60, ein Jahrzehnt nach Gruendung der
Bundesrepublik, kommt es in Koeln,
Bonn, Muenchen und Frankfurt zu einer Welle von
Hakenkreuzschmierereien und zu
Schaendungen juedischer Friedhoefe. Diese Haeufung
antisemitischer Vorfaelle erregt
nicht nur die Aufmerksamkeit des Auslands, sie fuehrt
auch innerhalb der Bundesrepublik
zu einer grundsaetzlichen Debatte ueber die politisch-kulturelle
Festigkeit der neuen
Demokratie. Am 18. Februar 1960 gibt die Bundesregierung
eine Erklaerung ab. Im
Anschluss an diese vom damaligen Innenminister Schroeder
vorgetragene Erklaerung
debattiert das Parlament ueber moegliche Zusammenhaenge
zwischen der
demokratischen Reife der Deutschen und ihren Schwierigkeiten,
mit einer schuldbelasteten
Vergangenheit umzugehen. Es war nicht die erste
Debatte dieser Art im Bundestag, und
zahllose folgten ihr. Aber in nur wenigen wurden
die kontroversen Argumente, die sich im
uebrigen in vier Jahrzehnten kaum gewandelt haben,
derartig deutlich zugespitzt. Der
Innenminister kommt nach einer Dokumentation der
Vorfaelle rasch zu seiner Diagnose und
zu den Ansaetzen einer daraus folgenden Therapie.
Sofern er ueberhaupt politische
Ursachen fuer diese Vorfaelle zu erkennen glaubt,
sieht er sie im "Fehlen eines
allgemeingueltigen deutschen Geschichtsbildes",
eines "allgemeinen verbindlichen
paedagogischen Leitbilds" und einer "angesichts
der scheinbaren ideologischen
Ueberlegenheit des Ostens" vielleicht noetigen "Gegenideologie".
Das von Schroeder
angesprochene Wunschbild einer weltanschaulichen
Halt gebenden "Gegenideologie"
praegt auch seinen Therapievorschlag. Letztlich
lokalisiert er die Ursache fuer die Vorfaelle
nicht etwa in der Fortdauer eines latenten Antisemitismus,
sondern in der
historisch-moralischen "Unausgeglichenheit" im deutschen
Bewusstsein, die durch den
ungeheuerlichen Vorgang der fabrikmaessigen Vernichtung
der europaeischen Juden
entstanden ist: "Vom 30. Januar 1933 trennen uns
nunmehr 27 Jahre. Vom Zeitpunkt des
Zusammenbruchs beinahe 15 Jahre. 15 Jahre, das sind
bereits drei Jahre mehr, als das
ganze sogenannte tausendjaehrige Reich gedauert
hat. Es ist, wie mir scheint, an der Zeit,
dass wir nun endlich ein ausgeglicheneres Verhaeltnis
zu unserer Vergangenheit
gewinnen." Das Ziel, dessentwegen die Deutschen
ihr Verhaeltnis zu ihrer
nationalsozialistischen Erblast in eine "ausgeglichenere"
Form bringen sollen, ist das der
Stabilitaet der neuen Demokratie. Der Abgeordnete
Kurt Georg Kiesinger hatte schon
sechs Jahre zuvor das spaeter dann im Parlament
immer wieder zitierte Primat der
"innerdeutschen Integration" formuliert. Dieses
Programm einer Aussoehnung der
Deutschen mit sich selber implizierte eine Zurueckhaltung
in der oeffentlichen Kritik an den
zahlreichen nationalsozialistisch belasteten Buergern
und auch eine demonstrative
Zurueckhaltung im oeffentlichen Lob der Gegner und
Opfer des Nationalsozialismus. An
diese Argumentationsfigur knuepft der Innenminister
an, wenn er sagt: "Wir brauchen
Versoehnung und Toleranz nicht nur in unserem Verhaeltnis
mit unseren juedischen
Mitbuergern, sondern innerhalb des gesamten Volkes."
Der Sprecher der SPD, Dr. Carlo
Schmid aus Tuebingen, entwickelt in seiner Gegenrede
eine direkt entgegengesetzte
Position. Er glaubt nicht, dass die westdeutsche
Demokratie an Stabilitaet gewaenne,
wenn die oeffentliche Diskussion ueber den Nationalsozialismus
eingeschraenkt wuerde.
Er rechnet die im Parlament unstrittige Labilitaet
der westdeutschen Demokratie eben der
unterbliebenen fundamentalen Auseinandersetzung
mit dem Dritten Reich zu. Fuer Carlo
Schmid gab es einen Zusammenhang zwischen der demokratischen
Unreife der
(West-)Deutschen und ihrer Unfaehigkeit, moralisch
nachzuvollziehen, was ihr Staat in
einem politisch-rechtlichen Sinne laengst getan
hatte, naemlich die Verantwortung fuer das
Erbe des Nationalsozialismus zu uebernehmen. Es
sollte noch gut ein Jahrzehnt dauern, bis
Willy Brandt vor dem Mahnmal des Warschauer Gettos
niederkniete. Sein Kniefall war
freilich eine stumme Geste. Jeder Deutsche mochte
in diese Geste hineindeuten, was er
wollte. Erst 25 Jahre spaeter wurde es moeglich,
dass Bundespraesident Weizsaecker -
zur vierzigsten Wiederkehr des Tages der deutschen
Kapitulation - mit der Autoritaet
seines Amtes die Schuld der Deutschen stellvertretend
annahm. Wenn ich eine Schuld
annehme, rechne ich die schuldhafte Handlung mir
als Subjekt zu. Sie abzulehnen, laeuft
darauf hinaus, mich selbst als Zurechnungssubjekt
zu leugnen. Die Berufung auf den
Befehlsnotstand oder die im Parlament sehr haeufige
anonymisierend-existentialisierende
Rede vom "Schicksal, in das man verwickelt gewesen"
sei, sind gute Beispiele fuer diesen
inneren Zusammenhang von Schuldabwehr und Subjektverleugnung.
Nicht nur in der
Wahrnehmung ihrer Mitsubjekte, sondern auch in der
Wahrnehmung ihrer selbst ist eine
Person nur in dem Masse imstande, autonom in die
Zukunft hinein zu handeln, wie sie die
aktuellen Folgen frueherer Handlungen verantwortungsvoll
uebernimmt. Dieser elementare
Zusammenhang von Schuldverleugnung und Autonomieverlust
ist in praegnanter Weise in
der Anerkennungsphilosophie des fruehen Hegel und
in Freuds Theorie der Psychoanalyse
reflektiert worden. Bei Hegel wird durch die verbrecherische
Tat nicht nur der sittliche
Zusammenhang der Gemeinschaft zerrissen. Weil die
schuldig gewordene Person sich zu
einer muendigen nur durch die Teilhabe an dieser
Sittlichkeit ueberhaupt erst gebildet hat,
weil sie diese sozusagen in sich selbst nachbildet,
hat sie durch die Tat auch sich selbst
zerrissen. In Freuds Modell des psychischen Apparates
steht das Ich im Spannungsfeld
zwischen Triebnatur und den einsozialisierten Anspruechen
des Gewissens.
Handlungsfaehig ist das Ich in dem Masse, wie es
ihm gelingt, diese konkurrierenden
Ansprueche souveraen zu vermitteln. Im Fall einer
schweren Schuld geraet das Ich so sehr
unter den Druck des strafenden Ueberichs, dass seine
Handlungssouveraenitaet
beeintraechtigt wird. Die kollektive Identitaet
der Nachkriegsdeutschen war durch ihre
Unfaehigkeit zur Schuldakzeptanz oder auch durch
die objektive Schwierigkeit, eine so
grosse Schuld anzunehmen, nachhaltig gestoert. Doch
weil die Nachkriegsdeutschen und
ihre politischen Repraesentanten nicht umhin konnten,
in schwierigen Situationen der
weiterlaufenden Geschichte auf das orientierende
Potential irgendeiner kollektiven
Identitaet zurueckzugreifen, bedienten sie sich
eines widerspruechlichen Musters erborgter
Identitaeten. Wer unter dieser Perspektive die die
Nazivergangenheit Deutschlands
betreffenden Bundestagsdebatten der fuenfziger bis
siebziger Jahre durchliest, ist immer
wieder verbluefft von der anscheinend unuebersteigbaren
Schwierigkeit, in der ersten
Person Plural ("wir haben das getan") von den "im
deutschen Namen" begangenen
Menschheitsverbrechen zu sprechen. Weil die Nachkriegsdeutschen
ausserstande waren,
sich als Taeter, das heisst als verantwortliches
Subjekt ihrer eigenen Geschichte, zu
begreifen, identifizierten sie sich in der oeffentlichen
Reflexion dieser Vergangenheit
geradezu zwanghaft entweder mit den Siegern oder
den Opfern des Krieges. Dieses
Muster der heteronomen Identifizierung finden wir
sowohl bei soziologisch befragten wie bei
klinisch untersuchten Individuen. Am ersten Jahrestag
der Eroeffnung des Bundestags
spricht Adenauer zum Beispiel von Deutschland ausschliesslich
in Opferkategorien:
"Deutschland ist zerstampft", "es liegt am Boden",
es war "in einen tiefen Abgrund
gestuerzt". In diesen Jahren entsteht ein rhetorisch-rituelles
Muster, das bis in unsere Tage
reicht. Noch in der Gestaltung des Mahnmals an der
Neuen Wache in Berlin im Winter 1993
finden wir das obsessive Bemuehen wieder, die Taeter
in einer vorgeblichen existentiellen
Gemeinsamkeit mit ihren Opfern verschwinden zu lassen.
Nicht weniger verbreitet ist das
Muster, sich in die Position der Sieger des Krieges
zu versetzen. Die Figuren des
westdeutschen Antitotalitarismus und des ostdeutschen
Antifaschismus praegten ueber vier
Jahrzehnte lang das Bewusstsein ganzer Generationen:
Ost und West gemeinsam war das
Muster einer heteronomen Selbstidentifikation als
"siegreicher Verlierer". Es kann nicht
zufaellig sein, dass dieses eigentuemliche Muster
der heteronomen Selbstidentifikation der
Deutschen als "Opfer" und als "siegreiche Verlierer"
erst nach dem Ende der deutschen
Teilung, besonders in den Tagen des zweiten Golfkrieges
reflexiv greifbar wurde. Obwohl
die Deutschen gar nicht unmittelbar in den Krieg
verwickelt waren, schlugen die Wogen der
oeffentlichen Erregung hoeher als sogar im unmittelbar
bedrohten Israel. Vielen
Diagnostikern ist sofort aufgefallen, dass die Ereignisse
am Golf den Deutschen eine
aeussere Leinwand oder eine Buehne fuer ein Drama
boten, das sich in ihrer Seele
offenbar schon seit Jahrzehnten abspielte. Dies
wurde offenkundig in den zahllosen und fast
immer abwegigen Parallelen, die zwischen dem Zweiten
Weltkrieg und dem Golfkrieg
gezogen wurden. Der genannte Typus der heteronomen
Opferidentifikation dominierte das
Bewusstsein der Pazifisten: Feministinnen weigerten
sich oeffentlich, "wieder
Truemmerfrauen" zu sein, das Neue Deutschland berichtete
ganz im Stil des Voelkischen
Beobachters von "angloamerikanischen Bombergeschwadern,
die ihre toedliche Last
abladen"; auf zahllosen von Jugendlichen hoch gehaltenen
Schildern wurde "Bagdad" zu
"Dresden". Das Bewusstsein der Bellizisten hingegen
war vielfach okkupiert von der
heteronomen Identifikation mit den "Siegern" des
Zweiten Weltkrieges. Hans Magnus
Enzensbergers suggestive Parallele zwischen Saddam
Hussein und Hitler bot vielen die
Chance, ein laengst bereitliegendes und nur im Kontext
der eigenen Geschichte
verstaendliches Reaktionsmuster auf ein Ereignis
zu projizieren, das sachlich damit wenig
zu tun hatte. Jene mit Hegel und Freud skizzierte
Selbstlaehmung eines individuellen
Subjekts, das seine Schuld nicht anzunehmen vermag,
aeusserte sich bei den Deutschen in
Gestalt einer moralischen Souveraenitaetseinbusse.
Die in den Parlamentsakten gut
dokumentierte Unfaehigkeit ihrer politischen Repraesentanten
zur stellvertretenden
Schulduebernahme beintraechtigte zugleich ihre demokratische
Kultur. Gerade in den
ersten Jahrzehnten unterentwickelt war jene von
Carlo Schmid angesprochene Tugend
einer inklusiven Demokratie, die darin besteht,
das Buergerrecht des Anderen im
politischen Raum zu ertragen. Die von den Besatzungsmaechten
verfuegte politische
Souveraenitaetsbeschraenkung hatte somit ihr Gegenstueck
in einem moralischen
Souveraenitaetsmangel der Deutschen und ihrer repraesentativen
politischen Elite. Die
historische Parallelitaet beider Souveraenitaetsbeschraenkungen
kam mit der deutschen
Vereinigung an ihr Ende. Waehrend die staatsrechtlichen
Beschraenkungen der
Bundesrepublik Deutschland aufgehoben wurden, dauert
der moralische
Souveraenitaetsmangel - in einer historisch veraenderten
Form - fort. Und diese
Ungleichzeitigkeit ist das Schluesselproblem bei
der Neuorientierung deutscher Politik
nach der Vereinigung. Alle Kontroversen ueber die
neue Rolle Deutschlands in der Welt,
etwa in der Frage der Einsaetze "out of area" oder
der Neujustierung der Aussenpolitik,
lassen sich in ihrem normativen Kern auf das Schema
eines alternativen Umgangs mit
dieser Ungleichzeitigkeit bringen. Waehrend die
einen nach der Wiedergewinnung der
politischen Souveraenitaet nicht mehr den Sinn von
spezifisch deutschen Skrupeln im
Gebrauch dieser Souveraenitaet einsehen, verlangen
die anderen - im Namen des noch
fortdauernden moralischen Souveraenitaetsmangels
- eine freiwillig erbrachte
Selbstbeschraenkung in der Aussen- und Militaerpolitik.
Die Feststellung dieses
Zusammenhangs zwischen der Unreife der demokratischen
Kultur der Deutschen und ihrer
Unfaehigkeit eines angemessenen oeffentlichen Umgangs
mit der Schuld an
Menschheitsverbrechen schliesst Ralph Giordanos
These von der zweiten Schuld nicht ein.
Ich frage mich, ob es den politischen Repraesentanten
in den fuenfziger oder sechziger
Jahren ueberhaupt in einer authentischen Weise moeglich
gewesen waere, die kollektive
Schuld anzunehmen. Anders gefragt: Koennte man sich
die Weizsaecker-Rede schon am
8. Mai 1955 vorstellen? Die Psychoanalyse lehrt
uns, dass dem schuldbeladenen Subjekt
die moralische Akzeptanz der Schuld nicht einfach
zu Gebote steht. Die Faehigkeit zur
Schuldannahme wird begrenzt durch die Groesse der
Schuld und durch den Zeitraum, der
fuer eine angemessene Suehne veranschlagt wird.
Warum haette die Schuld, und sei es nur
die indirekte Mitschuld an der ungeheuerlichen Tat
der fabrikmaessigen Vernichtung
unzaehliger Menschen schon innerhalb weniger Jahre
Gegenstand eines bewussten
subjektiven Schuldgefuehls sein koennen? Woher haetten
bei denen, die selbst
biographisch der Taetergeneration angehoerten, die
authentischen Motive zur
Schuldannahme kommen sollen und die symbolischen
Formen ihrer oeffentlichen
Artikulation? Zugaenglich wird die Schuld erst den
nachkommenden Generationen, die sich
zwar familialer und nationaler Herkunft nach der
Taetergeneration verwandt fuehlen, aber
zugleich keinen biographisch zu verantwortenden
Anteil an deren Schuldzusammenhang
mehr haben. Nur so wuerde auch die paradoxe Dynamik
der oeffentlichen Beschaeftigung
mit den Hypotheken der nationalsozialistischen Vergangenheit
verstehbar. Nicht nur an den
hier zu Rate gezogenen Protokollen des Bundestages,
sondern auch anhand anderer
Dokumente der Zeitgeschichte, besonders psychoanalytischer
Berichte, gewinnt man den
Eindruck, dass die oeffentliche Aufmerksamkeit fuer
das, was in Auschwitz geschah, mit
zunehmendem zeitlichen Abstand zu-, statt abnimmt.
Offenkundig ist das Projekt einer
solchen Schuldannahme einzig in der Form einer aeusserst
konflikthaften Kooperation
mehrerer Generationen moeglich. Niemand freilich
haette die diagnostische Kompetenz
und moralische Autoritaet festzustellen, wann jener
von Eva Reichmann visionaer
antizipierte Zeitpunkt einer gelungenen Schulduebernahme
ueberhaupt eintritt. Heute
jedenfalls waere es voellig absurd, den bei weiten
Kreisen der Bevoelkerung in Gang
gekommenen Prozess des Wachstums an moralischer
Souveraenitaet gegenueber der
nationalsozialistischen Vergangenheit unter Hinweis
auf die wiedergewonnene staatliche
Souveraenitaet fuer ueberfluessig zu erklaeren.
Die skizzierte Dynamik einer erst nach
Generationen einsetzenden, vielfach unbewussten
Auseinandersetzung mit der Schuld der
Deutschen heisst nun ueberhaupt nicht, dass die
nachfaschistische Politikergeneration die
ihr vorausgehende Epoche schlicht verschwiegen haette.
Dies gilt schon gar nicht fuer die
politischen Eliten der DDR. Fuer sie war die oeffentliche
Erinnerung der Opfer des
kommunistischen Widerstandes die Grundlage einer
staatlich gepflegten antifaschistischen
Zivilreligion. Und in einem zwar schwaecheren Sinne
und zu einem spaeteren Zeitpunkt
gehoerte auch fuer die politischen Eliten Westdeutschlands
die kritische Bezugnahme auf
die nationalsozialistische Vergangenheit zum festen
Repertoir der politischen Rhetorik. Das
Problem war also nicht die schlichte Ignoranz der
NS-Vergangenheit, sondern der Umstand,
dass ihre oeffentliche Erinnerung in der DDR und
der Bundesrepublik immer schon durch
das Prisma der ideologischen Konkurrenz beider Staaten
gebrochen war. Beide stritten
sich im Kern darum, wer aus der Erfahrung des Nationalsozialismus
die richtige
Konsequenz gezogen hatte. Die Erinnerung an diese
Epoche sollte zwar wachgehalten
werden, aber vornehmlich zu dem Zweck, die historische
Verantwortung fuer die deutschen
Verbrechen - genauer: fuer die Fortdauer ihrer Ermoeglichungsbedingungen
- der jeweils
anderen Seite aufzubuerden. Der westdeutschen Strategie,
das Erbe des
Nationalsozialismus durch eine antitotalitaere "freiheitlich-demokratische
Grundordnung" zu
bewaeltigen, setzte die politische Fuehrung der
frueheren DDR das Konzept einer
antifaschistischen Praeventivdiktatur entgegen.
Fuer das marxistisch-leninistisch gepraegte
Selbstverstaendnis dieser Fuehrungseliten der SED
bot die unterstellte historische
Kausalbeziehung zwischen Kapitalismus und Nationalsozialismus
ein Deutungsschema,
das es erlaubte, die historische Verantwortung fuer
die deutschen Menschheitsverbrechen
pauschal abzulehnen und sie dem kapitalistisch gebliebenen
deutschen Teilstaat
aufzubuerden. Mit der sozialistischen Transformation
war nach diesem Deutungsschema
dem Nationalsozialismus die Basis entzogen. Im Fall
der Bundesrepublik vollzog sich die
oeffentliche Anrufung der nationalsozialistischen
Vorgeschichte durchweg im Rahmen einer
fuer politische Kampfzwecke umgeschmiedeten Totalitarismustheorie.
Schon in den
allerersten Debatten des Bundestags taucht das Argument
auf, das dann fuer fast 25 Jahre
zu einem alles erklaerender Topos werden sollte.
In seiner Sitzung am 23. Februar 1950
diskutiert der Bundestag ein von der FDP eingebrachtes
Gesetz zur Beendigung der
Entnazifizierung. Schon in dieser fruehen Phase
findet sich in grosser Praegnanz das
"antitotalitaere" Argument, womit die politische
Klasse der Bundesrepublik sich eine
historische Legitimitaetskonstruktion zurechtzimmerte:
Die "Abwehr des Bolschewismus"
erlaubte es, sowohl die Westbindung der neuen Republik
zu betonen als auch die
historische Kontinuitaet zur vordemokratischen Kommunismusfeindschaft,
war doch der
Antikommunismus ein zentrales Element der deutschen
Ideologie unter aber auch nach
Hitler. Dies erlaubte vielen Konservativen, die
Illusion zu naehren, die Deutschen haetten
bereits zur westlichen Allianz gehoert, als sie
Hitlers Kampf gegen Russland unterstuetzten.
Mit grosser Emphase betont der freidemokratische
Abgeordnete Euler: "Was uns am
Herzen liegt, das ist, diese Beendigung der Entnazifizierung
zu einer Grundlage des
Weststaates werden zu lassen, durch die die neue
Demokratie um so besser legitimiert
wird, den Kampf gegen jede Art von Totalitarismus
in der Zukunft aufzunehmen." Ein
eigentuemliches Argument: Durch den Abbruch einer
Beschaeftigung mit dem eigenen
totalitaeren Erbe soll die deutsche Bevoelkerung
instand gesetzt werden, "totalitaeren
Bestrebungen jeder Art mit Entschiedenheit entgegenzutreten".
Bis in die siebziger Jahre
konnte man kaum einen konservativen oder liberalen
Politiker finden, der das Wort
"Nationalsozialismus" oder gar "Faschismus" ueberhaupt
in den Mund nahm. Die
ausserordentlich verbreitete vage Rede von der "totalitaeren
Herrschaft" war letztlich eine
nicht ungeschickte semantische Operation: Die eigene
nationalsozialistische
Vergangenheit wurde hinter dieser deklamatorischen
Abkehr vom Totalitarismus
abgeschottet, und die gesamte Aufmerksamkeit konzentrierte
sich auf die noch
gegenwaertige Form des Totalitarismus in Gestalt
des Systems jenseits des Eisernen
Vorhangs. Die auf den Nationalsozialismus und Stalinismus
bezogene klassische Theorie
des Totalitarismus hat nach der Erosion des kommunistischen
Imperiums ihre
Realitaetsgrundlage verloren. Schon fuer die "liberalisierten"
Varianten nachstalinistischer
Regimes war die empirische Triftigkeit dieser Theorie
angezweifelt worden. Und voellig
unbestritten ist, dass jene Theorie zur Entschluesselung
des nachtotalitaeren Szenarios
nichts mehr beizutragen hat. Der Plausibilitaetsschwund
dieser alten, letztlich
antikommunistisch geeichten Totalitarismustheorie
betrifft freilich nur seine erklaerende
Kapazitaet. Auf fatale Weise fort wirkt die ideologische
Funktion, die sie im Rahmen des
antikommunistischen Bewusstseins uebernommen hatte.
Eben weil die deutsche Haftung
fuer den Nationalsozialismus hinter der generalisierenden
Formel des Totalitarismus
verschwunden war, eben weil man im antikommunistischen
Kampf Suehnearbeit fuer die
eigenen Kollektivverbrechen zu leisten behauptete,
glaubten jetzt manche mit dem
kommunistischen Imperium sei auch die NS-Vergangenheit
endgueltig zur Geschichte
geworden. Der Antifaschismus des ehemaligen SED-Staates
hinterlaesst eine aehnliche
Hypothek. Die darin urspruenglich angelegte strategische
Selektivitaet der Erinnerung,
besonders in Gestalt der Monopolisierung des Opferstatus
fuer den kommunistischen
Widerstand, wird in der historischen Dialektik nach
der deutschen Vereinigung ihrerseits
zum Vehikel des Vergessens. Weil der kommunistische
Antifaschismus das Erinnern
monopolisiert hatte, koennte er in seinem Sturz
das Gedenken an die Opfer des
Nationalsozialismus mit sich in die Tiefe reissen.
Wenn heute in der ehemaligen DDR
Aufforderungen zum Gedenken an die Opfer des Naziterrors
gelegentlich als
SED-Propaganda abgewehrt werden, zeigen sich noch
einmal die Spaetfolgen dieser
infamen Instrumentalisierung einer nur zum Teil
erzaehlten Geschichte. Hannah Arendt hat
das Gebot eines nichtinstrumentellen Umgangs mit
der Geschichte der Shoah in
eindrucksvoller Schlichtheit formuliert: "Das Hoechste,
was man erreichen kann, ist zu
wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders
gewesen ist, und dann zu sehen und
abzuwarten, was sich daraus ergibt."
Als ich die vielen klugen Gedanken hoerte, die in
den Seminaren der akademischen Welt
schon lange behandelt werden und sich bestimmt fortsetzen
mit neuen Diplomarbeiten,
Dissertationen, Habilitationen und epochalen Veroeffentlichungen
in angesehenen
Verlagen und Schriftenreihen, progressiv und kritisch,
fragend und antwortend,
provozierend und erklaerend, begriff ich ploetzlich,
dass wir verloren haben. Schulklassen
kommen und gehen, hoeren mehr oder weniger zu, lachen,
tuscheln, winken, schreiben
einiges auf, fuer sich, die Nachwelt und die naechste
Klausur. Alles ist oeffentlich, die
Gewalt war frueher, vor Zeiten oder Jahrzehnten,
auf jeden Fall in der Vergangenheit. Nun
kann laut und selbstsicher geredet werden. Viele
Begriffe fallen, "Singularitaeten in der
Geschichte, Unmasse an Material, methodisch reflektiert,
trennscharf, interne Kohaesion,
totalitaer, posttotalitaer, spezifisch modern, in
toto, Terror, endogene, exogene Faktoren".
Und, es gibt nicht viel zu fragen, nicht wahr? Die
Antworten werden gekannt und referiert,
gekleidet in rhetorische Fragen ueber "Kontinuitaet,
Diskontinuitaet, deutsche
Besonderheiten, den Prozesscharakter der Geschichte"
und: "Wo ist die Theorie oder die
Theorien der Alltage fuer Menschen in Diktaturen?"
Ja, wo, das ist die Frage. Natuerlich hat
jedes Fach ein Vokabular und das ist gar nicht anders
moeglich. Und vielleicht ist es
sowieso unausweichlich, dass Historiker das letzte
Wort haben. Aber noch sind da die
Zeitgenossen, noch ein wenig Geduld muss aufgebracht
werden bis zum letzten Einordnen,
Bewerten und Entmachten das ist ja noch und will
sogar antworten, sprechen, etwas tun. Nur
was? Zum Beispiel sagen, dass "Aufarbeitung" ein
schreckliches deutsches Wort ist.
"Arbeit", "arbeiten" wird sehr bevorzugt vom fleissigen
Volk, etwas stand ja am Lagertor
auch, aber zynisch und irrefuehrend, mehr fuer "Arbeitsscheue",
Asoziale, "Volksverraeter"
und Dissidenten, wuerde man heute sagen. Wir wollen
ja lebend herauskommen aus
diesem "Prozess der Aufarbeitung" der Geschichte
gar, mit "Bedeutung fuer Deutschland
und Europa, Stellenwert, Stabilitaet, demokratische
Ordnung, Erbe zweier Diktaturen,
institutioneller Rahmen, historisch-politisch" und
so weiter, alles wichtig, richtig und gut,
siehe Konzept und Fragen zu dieser letzten oeffentlichen
Anhoerung der Kommission. Ich
weiss, dass Adorno einen wichtigen Aufsatz schrieb,
Titel "Was bedeutet Aufarbeitung der
Vergangenheit", er benutzte diesen Begriff, war
fuer "schonungslose Reflexion der
kraenkenden Vergangenheit", warnte aber vor "Propaganda"
und Zwang, es muessen
"innen" und freiwillig vor sich gehen. Die Psychoanalyse,
von der er etwas verstand, sollte
auch einmal Aufklaerung und Befreiung bringen fuer
viele. Es war nicht vorgesehen, dass
sich die psychiatrische Aerzteschaft die Methode
als Beutekunst krallt. Freud hatte andere
Vorstellungen von "Sozialhelfern" verschiedener
Herkunft und Berufe. Heute werden es wohl
die Historiker schaffen, auf jeden Fall aber Wissenschaftler.
Es gibt die Dominanz der
Helfer. Unrechtsbereinigen. Reinigen, Reinlichkeit,
Sauberkeit, das kann man auch nur in
deutschen Landen so formulieren, zum 2. Mal noch.
Da hoert man zu, zieht den Kopf etwas
ein, schreibt etwas auf. "Wir wissen, wie man das
macht"! Hier, meine Damen und Herren,
ist Kaelte und Vergeblichkeit vorhanden, auch moderne
Heuchelei. Jetzt fuehren sie wieder
das grosse Wort, sind ueber den Schuld- und Gewissensberg
laengst hinweg, sind die
Historiker und Wissenschaftler, auch die kuemmernden
Helfer. Naziverbrechen, Hitler,
Auschwitz, natuerlich nicht "aufrechnen" gegen die
Millionen des Gulag, nicht relativieren,
nicht wegschieben, kein "Schlussstrich", keine "Neubewertung"!
Die Verantwortung
uebernehmen, das Schreckliche wissen wollen, "dem
Entsetzen standhalten durch die Kraft,
selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen". Adorno.
Auch wenn es nicht zu fassen ist,
was diese deutschen Buchhalter und SSler und uniformierten
Papis "im Dienst" angerichtet
haben an Millionen von Menschen! Nicht gleichsetzen,
keine "Tagesordnung", keine
Schoenhuberei, Zitat von ihm, sinngemaess, das einzige
Verbrechen der Deutschen waere
gewesen, zwei Weltkriege verloren zu haben. Das
ist die Sprache der Taeter, der Moerder,
die bis heute nichts begriffen haben. In Auschwitz
war der Tod, das Unfassbare,
Unsagbare, Moederische, Schreckliche. Meine Damen
und Herren, ich erzaehle das hier.
Es ist nicht meine Aufgabe und nicht mein Wille,
Interpretationen im Sinne einer Theorie
anzuschliessen. Andere schreiben gelassen und akademisch
konzentriert. Das ist gut so
und bitter zugleich. Wollen wir hoffen, dass wir
dem standhalten, was schon wieder da ist
oder kommt. |