Psychische
Antriebe
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Neurotisch sind wir alle. Die Neurose ist das Ergebnis der normalen Entwicklung als Anpassung an die Kultur, "weiter" kann der Mensch in seiner psychischen Entwicklung nicht kommen. Allerdings kann er seine Neurose kennenlernen und dadurch mit ihr besser umzugehen lernen - gerade dafür war die Psychoanalyse gedacht. Will er vermeiden, daß er unter dem neurotischen Ich leidet, ist Reflexion nötig. Im Grunde besteht die gesamte Literatur aus Beschreibungen neurotischer Zusammenhänge und was den Dichter dazu antreibt und ihn gleichzeitig die Erleichterung nach dem Schreiben spüren läßt, ist die Kraft der Reflexion, die es ihm in dichterischem Gewande ermöglicht hat, schreibend mit seinem Leiden umzugehen und es einzubinden. Das neurotische Ich unterscheidet sich vom brüchigen und flüchtigen Ich durch starke intakte Ich-Grenzen, sehr gute Einschätzung der Realität und gute Kontrolle der Affekte. Das neurotische Ich wird vor allem durch den Konflikt zwischen den sexuellen und aggressiven Gefühlen und dem Gewissen belastet, das neurotische Ich leidet vorwiegend unter der Last der irrationalen Schuld- und Schamgefühle. Das neurotische Ich ist im Unterschied zum psychotischen und dem des Borderliners traurig. Die Traurigkeit ist ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen Neurose und Psychose oder Borderline-Störung. Der Psychotiker und der Borderliner kennen das Gefühl der Trauer überhaupt nicht. Wie entsteht nun das neurotische Ich? War die Mutter ausreichend liebevoll, dann wird vom Kind das Gute teilweise in sich aufgenommen, es wird zu einem Teil seiner selbst. Das Kind muß jedoch erkennen, daß es die Mutter nicht ganz in sich aufnehmen kann, daß es die befriedigenden Gefühle nicht in vollem Umfang erleben kann. Das macht das Kind traurig. Die Trauer ist die Folge davon, daß das Kind etwas Gutes in der Welt zurückgelassen hat; es wird später nach diesem zurückgelassenen Teil des Guten suchen. Es hat aber auch etwas von dem Guten zu einem Teil seiner selbst gemacht, was bedeutet, daß sowohl der Mensch selbst als auch die ihn umgebende Welt positiv besetzt wurde, was zugleich die Garantie dafür ist, daß dieser Mensch sich und die Welt grundsätzlich nicht zerstören will. Das ist ein wesentlicher Unterschied: Der Borderliner wird durch Affekte der Angst, der Gier und des Hasses bewegt, wodurch er sich selbst und die Welt zerstört, während der Depressive mehr oder weniger eine liebevolle Einstellung zu sich selbst und zur Welt hat, wodurch er zu sich und zu anderen grundsätzlich eher hilfreich als destruktiv wirkt. Das Traurige enthält die Sehnsucht nach verlorener Liebe, die der Mensch in anderen Menschen und in der Welt, auch in sich selbst suchen wird. Wesentlich für das Erleben des Verlustes der geliebten Mutter und insoweit der Befreiung aus der symbiotischen dyadischen Mutter-Kind-Beziehung, ist die Wahrnehmung des Kindes, daß die Mutter auch den Vater liebt, und nicht ausschließlich das Kind. Das Kind liebt auch den Vater, zunächst dafür, daß der Vater ihn aus der "Babylonischen Gefangenschaft" der Mutter befreit, das Kind "atmet auf", beglückt darüber, daß es mehr als nur einen Menschen, die Mutter, auf der Welt gibt. In dem Falle, wenn das Kind nicht "aufatmen" kann, erkrankt es oft an psychogenem Asthma. Das ältere Kind erlebt sexuelle Gefühle gegenüber dem gegengeschlechtlichen Elternteil und ist mächtig sauer und eifersüchtig auf den anderen Elternteil, wünscht sich den oder die Konkurrentin zum Teufel. Diese aggressiven Wünsche bereiten dem Kind Schuldgefühle, die inzestuösen sexuellen Wünsche hingegen bereiten ihm Schamgefühle. Es befindet sich im Ödipuskonflikt. Im besten Falle gibt das Kind die Konkurrenz und den geliebten Objekt auf, wird dabei traurig und tröstet sich damit, daß es einmal in allen Eigenschaften den oder die Konkurrentin überholen und dann das geliebte Elternteil für sich gewinnen wird. D.h. der kleine Junge nimmt sich vor, einmal genauso oder noch besser zu werden als der Vater, damit er dann die Mutter erobern kann, während das kleine Mädchen sich vornimmt, die Eigenschaften der Mutter zu übernehmen, damit es später so wie die Mutter den Vater erobern kann. Damit wird die sexuelle Identität mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gefestigt und die eigene Sexualität mit milden Schamgefühlen auf das andere Geschlecht bezogen. Zugleich wird die Aggressivität durch die entstandenen Schuldgefühle gehemmt und sogar in das Gegenteil, d.h. Hilfsbereitschaft, Wettbewerb, Leistungsfähigkeit verkehrt, die Eifersucht wird gemildert, der Neid verdrängt, das Muster der Akzeptanz eines anderen Menschen in seiner Individualität ist entstanden, Aggression und Sexualität werden als Kultur- und Zivilisationsleistungen sublimiert. Diese normale neurotische Entwicklung hat jedoch Nebenwirkungen: Der neurotische Mensch hat eine zunächst unreflektierte Bereitschaft zur Identifikation mit dem Aggressor, d.h. er macht sich die Gedanken und Gefühle desjenigen zu eigen, der ihn angreift; er hegt irrationale Schamgefühle bezogen auf die Sexualität und verfolgt oft zu hoch gesteckte Ideale; die eigene Aggressivität ist oft in einem Ausmaß gehemmt, das zur Wehrlosigkeit führen kann durch Schuldgefühle, wenn der Mensch sich durchaus angemessen gegen Aggressionen von Außen wehren möchte. Alles Schöne enthält etwas Trauriges, manchmal mehr, manchmal weniger, während das Pathetische und Monumentale der Melancholie entbehrt und vielmehr Macht oder Wut und Zorn ausdrückt, also eine Angst macht, die es selbst trägt. Das Pathetische und Monumentale gehört mit seinen Affekten der Macht und Angst zur schizoid-paranoiden Position, in der die Hemmung vor Mord und Tod durch Liebe noch nicht enthalten ist, das Schöne dagegen wird vom leichten Gefühl der Melancholie getragen, gehört zur depressiven Position und beinhaltet die liebevolle Hemmung vor dem Mord und vor dem Tod, eben dadurch, weil die Traurigkeit der Ausdruck des verlorenen Guten und Schönen ist, das der Mensch dann in anderen, in der Welt im allgemeinen und in sich selbst fühlt, was ihn vor der Zerstörung seiner selbst und anderer bewahrt. Daher ist die Fähigkeit zu trauern zugleich die Fähigkeit, das Schöne zu empfinden. |
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