Freudsche Psychoanalyse

 


Psychische Antriebe
Das Ich oder: Wie erkenne ich die Wirklichkeit?

Das frühe brüchige Ich oder: Warum knallt jemand durch ? (Borderline-Syndrom)

Das Integrieren des "Dritten", das Aufgeben der einfacheren Himmel-oder-Hölle-Sicht ist für das Kind eine Leistung, die es innerhalb seiner Entwicklung zu erbringen hat. Es muß sozusagen die Hürde der Triade überspringen und dies bedeutet die Zerstörung der Dyade. Nun gibt es jedoch Grenzfälle, in denen das Kind bildlich gesprochen sich nur gerade mit einem Bein über die Hürde geschwungen hat, sich also nur zu einem Teil auf der anderen Seite befindet. Das Kind erfährt nur erste, leichte Ansätze zur Entwicklung eines stabilen Ich, die triadische Beziehung steht ihm sozusagen verschwommen vor Augen, jedoch hat ihm dieses Bild die dyadische Beziehung noch nicht zerstört. Dies äußert sich später darin, daß der Erwachsene in bestimmten Situationen, in denen er emotional nicht belastet wird, auch fähig zu einem normalen Vernunftdenken ist, in emotional belastenden Situationen, beispielsweise in Beziehungen, kommt es jedoch zu einem Rückfall in die Tertium-non-datur-Phase und er spaltet gut und böse vollständig voneinander ab. Das Fundament für die Vernunft ist zwar teilweise gelegt, aber es trägt nur Kartenhäuser.

Das Ich ist "brüchig", d.h. manchmal erscheint ein solcher Mensch völlig normal, dann wieder verhält er sich wie ein Wahnsinniger, er "knallt durch". Das Vorhandensein einer solchen "Grenzfall-Persönlichkeit" bezeichnet man als "Borderline-Persönlichkeitsstörung" oder als "Borderline-Syndrom". Ein Borderliner ist ein Mensch, der an sich wahnsinnig werden müsste, es jedoch nicht wird; sein Ich ist zu stabil, um wahnsinnig zu werden und zu labil, um normal neurotisch zu sein. Er weist zwar in seiner Entwicklung Beschädigungen auf, die ihn sozusagen vollends zum Wahnsinnigen befähigen, er hat jedoch auch genügend Anteile in seine Ich-Struktur aufgenommen, die ein "bloßes" Wahnsinnigwerden verhindern.

Wird die Seele belastet, neigt jeder Mensch dazu, sie zu entlasten: man lädt den "seelischen Müll" bei guten Freunden oder beim Therapeuten ab, ähnlich wie in Deutschland der Müll ins Ausland verschoben wird, wenn die Entsorgung hierzulande nicht ausreicht. Während also bildhaft gesprochen der Psychotiker im eigenen Müll sitzt und dabei glaubt, am sauberen Meeresstrand im Süden zu sein, wirft der Borderliner in einer Nacht- und Nebelaktion seinen Müll dem Nachbar in den Garten, am nächsten Tag weiß er nichts mehr davon, beschimpft aber diesen Nachbarn als eine Drecksau und zeigt ihn heilig erzürnt bei der Polizei wegen Umweltverschmutzung an, verprügelt ihn oder bringt ihn sogar um, gänzlich davon überzeugt, voll im Recht zu sein und einer guten Sache gedient zu haben.

Das Ich des Borderliners ist soweit ausgebildet, daß er die Realität, wenn es ihm zweckdienlich ist, erkennen kann, seine Affekte sind jedoch ebenso primitiv, ungezügelt und gewalttätig wie beim Psychotiker. Im Unterschied zu diesem werden jedoch die Gier und der Haß nicht in der Phantasie, sondern in der Realität ausgelebt.

Die deutsche Psychoanalytikerin Christa Rohde-Dachser, die sich maßgebend mit dem Borderline-Syndrom befaßt hat, hat das Borderline - Syndrom als eine Anpassungsleistung beschrieben, die das traumatisierte Autonomiestreben in der kindlichen Entwicklung - verbunden mit einer Verlassenheitsdepression - bewältigen soll.

Im Verlauf dieser Anpassungsleistung bilden sich archaische Spaltungsmechanismen heraus, die hauptsächlich dazu dienen, die Ambivalenzerfahrung, daß jeder Mensch sowohl "gute" als auch "böse" Seiten hat, vermeiden zu helfen.(Rohde-Dachser, Christa: Zur Genese und Therapie der Borderline-Störungen. In: Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie. 1980; 30 (2), S. 60-69)

Das frühe brüchige Ich des Borderliners ist ein Grenzfall zwischen der Neurose und Psychose. Diese Erkenntnis stammt aus der nachfreudianischen Periode der Psychoanalyse und wird auch in der Psychiatrie klassifikatorisch verwendet. Es herrscht jedoch Uneinigkeit hinsichtlich der Frage, welche Zustände der "Grenzfall" überhaupt voneinander abgrenzen soll. Normalität, Neurose und Psychose lassen sich entweder als voneinander unabhängige Einheiten auffassen oder als Zustände, die ein fließender Übergang verbindet. Es besteht demnach die Schwierigkeit, den "Grenzfall" inhaltlich zu präzisieren, also Symptome festzulegen, welche die Diagnose "Grenzfall" begründen.

Es gibt noch eine weitere Auffassung, daß es sich bei dem "Grenzfall" um ein eigenständiges Syndrom handelt, das sowohl Bezüge zu Normalität und Neurose als auch zu Psychose aufweist. Insbesondere in Anlehnung an den amerikanischen Psychoanalytiker Otto F. Kernberg werden unter anderem folgende für den "Grenzfall" typische Charakteristika angenommen: Pseudo-Affektivität (d.h. "unechte" Gefühle), konstant vorhandene diffuse Angst, oberflächliche zwischenmenschliche Beziehungen, Neigung zu intensiven Haß- und Gier-Affekten, jedoch größtenteils intakte Ich-Grenzen und gute Realitätsprüfung.(Känzig, Hans Rudolf; Zur Psychologie der Grenzfälle zwischen neurotischen und psychotischen Erkrankungen; Zürich/Universität, Philosophische Fakultät; 1978; Dissertation; Universitätsbibliothek Trier)

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