Frau Prof. Dr. med. Annemarie Duehrssen,
emeritierte Ordinaria fuer Psychotherapie und
Psychosomatische Medizin im Erwachsenenalter im
Klinikum Rudolf Virchow der Freien
Universitaet Berlin, Dozentin am Berliner Institut
fuer Psychotherapie und Psychoanalyse,
Mitherausgeberin der Zeitschrift fuer Psychosomatische
Medizin und Psychoanalyse,
Sachverstaendige Beraterin Bundesausschuss der Aerzte
und Kranken-kassen, mit
wissenschaftlichen Schwerpunkten: vergleichende
Psychotherapieforschung (Kinder- und
Jugendlichentherapie, Familientherapie, Gruppentherapie,
Dynamische Psychotherapie,
Psychoanalyse, Verhaltenstherapie), Dokumentationssystem
fuer den Bereich der und der
Psychoanalyse, Risikofaktoren fuer eine psychogene
Erkrankung, Geschichte der
Psychoanalyse, gelangte vor allem deshalb zu Beruehmtheit,
weil sie dazu beitrug, die
Psychoanalyse krankenkassenwuerdig zu machen, schreibt
in ihrem 1994 erschienenen
Buch "Hundert Jahre Psychoanalyse in Deutschland",
die Zerschlagung der Psychoanalyse
durch den Nationalsozialismus entspreche lediglich
dem "Wunschdenkender aus
Deutschland emigrierten Psychoanalytiker". Es sei
ein "Mythos,wenn die rueckblickende
Geschichtsschreibung die Vorstellung erweckt,dass
eine bluehende und
durchsetzungskraeftige Psychoanalytische Gruppe
unvermutet vom Nationalsozialismus
ueberfallen" wurde. Statt dessen habe der Nationalsozialismus
im "Geist der Aufklaerung"
dafuer gesorgt, dass "der patriarchalische Zug,
der die Psychoanalytische Gruppe so lange
beherrscht hatte", zurueckging, und dass sich die
Psychoanalyse voneiner "kleinen
elitaeren, verschworenen Sekte" mit einer "spezifisch
juedischen Eigenart" befreien konnte.
Duehrssen konstruiert die Freudsche Psychoanalyse
als Wissenschaft der
"juedischenStammesgenossen", deren "talmudische
Denkweise" und "Gruppendynamik
sich auf die Fortentwicklung der psychoanalytischen
Wissenschaft noch immer nachteilig
auswirkt." Aber nicht nur ein fortwirkender Schaden
fuer den"Grundbestand
psychoanalytischen Wissens" sei auf "Freud und seine
Anhaenger" zurueckzufuehren,
sondern letztlich auch die Judenfeindlichkeit, die
jene zur Emigration zwang. Deutsche
Psychoanalytiker seien zuvor "von der juedischen
Gruppe beeintraechtigt" worden. Die "im
tiefsten Kern abschaetzige Einstellung der Juden
den Nicht-Juden gegenueber setzte sich
im allgemeinen vor allem in jenen Gruppen durch,
in denen die Juden an Zahl ueberlegen
waren. Aus der Berliner psychoanalytischen Gruppe
stammen jedenfalls einige Berichte von
nicht juedischen Mitgliedern, die diese Form von
herablassenderBeurteilung gespuert
haben wollen." Solche von den Juden ausgehenden
"Spannungen zwischen den Juden und
den Gojim" seien heute "keine bewusstreflektierte
oder auch nur gekannte Erscheinung
mehr". Aber "in den Jahren, in denen Freud ( . .
.) sein Reich ausbaute, waren sie existent
und wirksam." Duehrssens Schrift gegen das vermeintliche
juedische"Establishment unter
den Psychoanalytikern" und den "einheitlichen Judentypus",
der "auf sein tausendjaehriges
Reich" hoffte, "das den Juden die Herrschaft ueber
die Erde" bringen wuerde, erscheint bei
Vandenhoeck und Ruprecht.
Prof.Dr.med.Hubert Speidel geb.1934. Nervenarzt,
Psychoanalytiker (DPV). Direktor der
Klinik fuer Psychotherapie und Psychosomatik der
Christian-Albrechts-Univeristaet zu Kiel.
Vorsitzender des Deutschen Kollegiums fuer Psychosomatische
Medizin (DKPM),
Sekretaer der Baltic Sea Society, Arbeitsschwerpunkt:
Psychosomatik chronischer
Krankheiten., schreibt in der Zeitschrift fuer psychosomatische
Medizin 42, 179-189, ISSN
0340-3613, ebenfalls Vandenhoeck & Ruprecht
1996 "Ueber einige verborgene
Konsequenzen der "Vergangenheitsbewaeltigung" der
NS-Zeit" (Erweiterte Fassung eines
Vortrages auf dem 13 World Congress des International
College of Psychosomatic
Medicine, Jerusalem, 13. September 1995):
"In dem Buch von Alexander und Margarete Mitscherlich
,,Die Unfaehigkeit zu trauern, das
eine Art Bibel der juengeren Intellektuellen wurde,
verordnen die Autoren partiellen
Realitaetsverlust und kollektiven Selbsthass.
Nach dem Brandanschlag auf ein Asylantenwohnheim
in Rostock, welcher der Anlass zu
einer Serie von Anschlusstaten wurde, war die Empoerung
gross, aber kaum jemanden
interessierte die Vorgeschichte. Sie haette dem
Beduerfnis nach Empoerung und der
Zuordnung zur rechtsradikalen Szene womoeglich ebenso
geschadet wie die Asylbewerber
diskreditiert, deren Rechte in Erinnerung an das
Schicksal juedischer Emigranten in
Deutschland als ein besonders schuetzenswertes Gut
betrachtet werden. So erfuhr die
Oeffentlichkeit nicht, dass die Bewohner jener Siedlung,
in der sich das
Asylbewerberwohnheim befand, monatelang beim Magistrat
der Stadt ueber unzumutbare
Verhaeltnisse geklagt hatten, und zwar ohne jeden
Erfolg, so dass schliesslich eine
explosive Atmosphaere entstand, in welcher eine
Kategorie gewaltbereiterjugendlicher, die
durch Entwurzelung, Arbeits- und Perspektivlosigkeit
sowie desolate Familienverhaeltnisse
charakterisierbar sind, als handelnde Subjekte quasi
stellvertretend destruktiv taetig
wurden. Fuer die Oeffentlichkeit hatte sich dieser
komplizierte Sachverhalt auf die
Wiederbelebung nazistischer Umtriebe reduziert und
(selbst)gerechte Empoerung
produziert. Anlaesslich des Luebecker Synagogenanschlages
verweigerte sich die
Oeffentlichkeit hartnaeckig der Einsicht des Gerichtsgutachters,
dass es sich bei den
Taetern um minderbegabte, alkoholisierte, aus desolaten
familiaeren Verhaeltnissen
stammende und von der gesellschaftlichen Fuersorge
im Stich gelassene Jugendliche
handelte, die nicht einmal wussten, was eine Synagoge
ist.
So koennte die Jenninger-Affaere ein Modell zum Verstaendnis
dafuer werden, wie Hitler
fast ein ganzes Volk, und zwar keineswegs nur die
Dummkoepfe, auf seine irrationale
Haltung einschwoeren konnte, und wie es zum stillschweigenden
Einverstaendnis mit der
ideologisch-irrational begruendeten Diskriminierung,
damals der Juden, hier Philipp
Jenningers kam. (Vorsorglich sei festgestellt, dass
von der Vergleichbarkeit der
Mechanismen und nicht von derjenigen der Folgen
die Rede ist.) Der Jenninger-Skandal ist
insbesondere ein Modell fuer das Raetsel, warum
die Deutschen nach dem Ende der
Hitler-Zeit nicht ueber ihren Irrtum sprachen, auf
Hitler hereingefallen zu sein: die Kraenkung
erzeugt Scham, und diese widersetzt sich ihrer Natur
nach dem oeffentlichen Bekenntnis.
Wie sich damals ein ganzes Volk nicht nur schuldig
gemacht, sondern auch furchtbar
blamiert hatte, so hat sich im Jenninger-Skandal
ein grosser Teil unserer politischen und
literarischen Intelligenz ebenfalls zutiefst blamiert,
und deshalb mussten sie aus Gruenden
der Scham stumm bleiben,
die sich der ,,Sueddeutschen Zeitung" anboten: sie
schob alles dem mangelnden
Rednertalent in die Schuhe, ohne zu reflektieren,
dass ihre eigenen Journalisten verblendet
gewesen sein koennten, wie einst die Deutschen gegenueber
Hitler (2). Die angesehene
Wochenzeitschrift ,,DIE ZEIT" hatte die allgemeine
Stimmung damals mit einer Faelschung
geschuert; sie denunzierte Jenninger dadurch, dass
sie aus einem Zitat das o.g. ,,so sagte
man damals" schlicht unterschlug (16). Diese Umstaende
verdienen Erwaehnung, weil es
sich um sonst sehr serioese Blaetter handelt, deren
Entgleisungen deshalb umso
beunruhigender sind. Hier waere auch die Haltung
der ,,Sueddeutschen Zeitung" in der
Affaere Heitmann zu erwaehnen. Dieser, ein saechsischer
Minister, hatte versucht, sich um
das Amt der Bundespraesidenten zu bewerben und war
daran gescheitert. Einer seiner
wichtigsten taktischen Fehler war, sich gegen die
in der Politik und in den Medien
herrschende Tendenz der Reduktion der Frauen auf
die Berufsrolle zu wenden. Diese
oeffentliche Haltung ist mehrfach determiniert.
U. a. ist sie eine Reaktion auf die noch frisch
im oeffentlichen Bewusstsein befindliche Reduktion
der Frauen auf die Gebaer- und
Mutterrolle durch die Nazis, mithin eine Abwehrreaktion
gegen befuerchtete
nationalsozialistische Unterstroemungen in der deutschen
Bevoelkerung. Heitmann hatte
nun die Reaktivierung des Interesses der Frauen
an der Familie angemahnt. Dafuer konnte
er eine Fuelle rationaler Gruende ins Feld fuehren.
Nicht zuletzt ist er Minister desjenigen
Bundeslandes, das weltweit die geringste Geburtenhaeufigkeit
hat. In einem Interview
versuchte die ,,Sueddeutsche Zeitung" nun, den Kandidaten
auf die Position ,,Kinder -
Kueche - Kirche" festzulegen, und aufgrund der rabulistischen
Ueberlegenheit ihres
Journalisten gelang ihr dies, wiewohl es nach Auffassung
von Martin Walser durch keine
Aeusserung Heitmanns belegt war (17). Es ging aber
in Wirklichkeit gar nicht um einen
rationalen Diskurs, sondern um ein irrationales
Abwehrmanoever zur Absicherung einer
Ideologie. Das juengste Beispiel ist die Affaere
Annemarie Schimmel (3). Frau Schimmel,
zweifellos eine der bedeutendsten deutschen Frauen
des 20.Jahrhunderts, hat den
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten,
wogegen sich der Protest einer
grossen Zahl deutscher Intellektueller und fuehrender
Repraesentanten der Medien richtete.
Frau Schimmel hatte deren Zorn durch zwei Wahrheiten
ausgeloest: sie hatte ohne
Ruecksicht auf politische Taktik festgestellt, dass
a) Salman Rushdie die Gefuehle vieler
Muslime sehr verletzt habe, und dass b) das Buch
,,Satanische Verse" nicht gut sei. Von
beidem kann man sich leicht ueberzeugen. Es haette
ja nicht die alle zivilisierten Menschen
empoerende Todesbedrohung gegen Salman Rushdie gegeben,
wenn sie nicht der
Ausdruck der Kraenkung von Gefuehlen Glaeubiger
waere, und wer je versucht hat, das
langweilige Buch ,,Satanische Verse" (14) zu lesen,
wird sich eher wundern, warum es so
viele Gefuehle verletzt hat, als an Frau Schimmels
Urteil zu zweifeln - hat hier doch einer
vergeblich versucht, ein so ueppiger Erzaehler wie
der geniale Nagib Machfus zu sein, mit
den wohlfeilen Mitteln einer gaengigen Ruehrniixtechnik
und der Verwendung von
Obszoenitaeten, mit denen heutzutage auch drittklassige
Autoren sich Aufmerksamkeit
verschaffen. Das Resultat ist, dass die wenigsten
das Buch lesen, das ausschliesslich dem
Skandalon der Todesbedrohung Rushdies seine weltweite
Aufmerksamkeit verdankt. Nun
haben viele prominente Intellektuelle es sich nicht
versagt, der ehrwuerdigen und
friedfertigen Frau Schimmel zu unterstellen, sie
stehe auf der Seite der terroristischen
Aktivitaeten gegen Salman Rushdie - eine wahrhaft
toerichte Vermutung. In Wirklichkeit
vertreten diese Hueter der oeffentlichen Moral eine
antiislamische Tendenz, indem sie die
Gefuehle der Muslime als quantite´ négligeable
behandeln und ueberdies Frau Schimmel
vorwerfen, sie habe abendlaendische Werte (Meinungsfreiheit
z.B.) verraten. Es ist eine
Position, die im ueblichen Sprachgebrauch heutzutage
etwas ungenau als Rassismus
bezeichnet wird. Jedenfalls wird die uns fremde
Welt des Islam als gegenueber unserem
abendlaendischen, saekularisierten Denken weniger
wertvoll betrachtet, und von Frau
Schimmel, der grossen Vermittlerin zu jener Kultur
wird erwartet, dass sie diese Meinung
teile. Die Entfernung zum Antisemitismus ist geringer,
als die Anti-Schimmel-Moralisten
ahnen. Der SPIEGEL gar fand sich nicht zu schade,
Frau Schimmel ,,Dusseligkeit" zu
unterstellen (3), m. a.W. jedes Mindestmass an Respekt
zu unterschreiten. Alle diese
Beispiele belegen, wie empfindlich die deutsche
Oeffentlichkeit auf jede vermeintliche
Gefahr des Wiederauflebens des Nationalsozialismus
reagiert, und wie nahe sie gerade
dadurch an dieselben moralistisch-totalitaeren Denkstrukturen
geraet, deren sich der
Nationalsozialismus bediente. Man darf nicht vergessen,
dass die Nationalsozialisten vor
allem als Moralisten auftraten, und wenn Hitler
davon sprach, dass er nicht den aeusseren,
sondern den inneren Staatsanwalt fuerchte, so musste
das protestantische Ohren
begeistern, schien er doch beste lutherische Tradition
zu vertreten. Die Pervertierung dieser
strengen internalisierten Moral durch Hitlers destruktiven
Narzissmus konnten die wenigsten
ahnen. Die Folgen des Naziregimes und des Holocaust
lassen sich auch auf einem
anderen Feld beobachten: seit der Aera des Nationalsozialismus
und bis heute
unveraendert herrscht in weiten Kreisen der deutschen
Bevoelkerung ein tiefes Misstrauen
gegen staatliche Ordnung und ihre Fxekutive. Dafuer
gibt es die bekannten historischen
Gruende; dazu gehoert auch das politische Ueberleben:
des Kommentators der
Nuemberger Rassengesetze von 1933, Globke, als Staatssekretaer
Adenauers, der nicht
zur Rechenschaft gezogenen Nazirichter, des frueheren
SS-Offiziers als langjaehrigem
Aerztekammerpraesidenten uv. a. Aber das Misstrauen
reicht ueber diese Fakten weit
hinaus und laehmt in vieler Hinsicht staatliche
Initiativen, vom Fisenbahnbau ueber die
Unterstuetzung der UN in Bosnien bis zu polizeilichen
Massnahmen im eigenen Lande. Fs
gibt in Deutschland eine verbreitete geistige Unterstroemung,
die staatliche Gewalt mit
Naziterror quasi gleichsetzt und deswegen einem
extremen Individualismus das Wort redet.
In Hamburg beispielsweise wagten die Politiker ueber
Jahre nicht, die zahllosen
Rechtsbrueche von dissozialen Hausbesetzern in der
beruechtigten Hafenstrasse oder von
auslaendischen Drogenhaendlern zu verfolgen. Sie
koennten sicher sein, dass die Medien
und viele Politiker jeden verletzten Chaoten oder
Dealer zum Maertyrer einer
unterprivilegierten Gruppe und zum Opfer einer brutalen
Polizei stilisierten, und dann waere
die Wiederwahl der Politiker gefaehrdet. In Hamburg
beispielsweise fuehrten Uebergriffe
einiger weniger Polizisten zu unangemessenen Verdaechtigungen
der Polizei durch
Politiker und Medien. In Hannover hatten sich wie
in den Jahren davor im Sommer 1995 ca.
1700 Punker und Skinheads zu sogenannten Chaostagen
angesagt, und alle wussten, dass
dies in schreckliche Gewalt ausarten wuerde. Die
Polizei aber verschloss davor die Augen;
sie entschied sich fuer ein Konzept der Verleugnung,
das sie ,,Deeskalation" nannte und
den Chaoten z. B. erlaubte, ungestraft einen Supermarkt
zu pluendern. Fuer die Regierung
in Niedersachsen waere das Schlimmste gewesen, als
antiliberal und autoritaer angesehen
zu werden, was in der deutschen Oeffentlichkeit
immer noch leicht den Naziverdacht
ausloest. Die Folgen waren, wie vorauszusehen, fast
200 verletzte Polizisten, ein riesiger
Sachschaden mit 38 Braenden, 23 beschaedigten Dienstwagen,
sechs beschaedigten
Haeusern und, wie ebenfalls vorhersehbar, mit einem
Politiker der Gruenen
(stellvertretender Parlamentspraesident)' der die
Brutalitaet der Polizei als Ursache
bezeichnete. Weil aber die Regierung nur eine Stimme
Mehrheit hat, durfte der
verantwortliche Innenminister nicht stuerzen; stattdessen
opferte man schliesslich den Leiter
der Polizei, der sich, von den Politikern im Stich
gelassen, notwendig als unfaehig erweisen
musste (10). Solche Beobachtungen noetigten den
frueheren Deutschlandkorrespondenten
der Washington Post, Marc Fisher, in seinem Jungsten,
unfreundlichen, aber realistischen
Buch ueber Deutschland zu der verwunderten Feststellung,
dass in Deutschland die Gewalt
brutaler Jugendlicher eigenartig wenig verfolgt
und zu dem Fazit seiner Beobachtungen,
wonach seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland
all das als normal definiert wird, was
von den Nazis bekaempft worden war (5).
Der Vorwurf der Undifferenzierung trifft neben anderen
gravierenden z.B. die beiden fuer
die Entwicklung des kollektiven Selbstbildes der
deutschen Nachkriegsintellektuellen
wichtigen und vielleicht einflussreichsten Autoren
Alexander und Margarete Mitscherlich mit
ihrem 1967 erschienenen, in ueber 200000 Exemplaren
verkauften Buch ,,Die Unfaehigkeit
zu trauern" (13), das in den Jahren danach eine
Art Bibel der jungen Intellektuellen wurde.
Wenn man es heute wieder liest und bedenkt, wie
einflussreich es war und noch ist, so
erschreckt, wie moralisierend, gnadenlos,humorlos
und ohne Wohlwollen die Autoren mit
den Deutschen umgehen. Sie benuetzen dazu Freuds
Psychoanalyse, die sie wie eine
unaufhoerliche Litanei als Anklagemittel zitieren.
Koennte man dies noch als Zorn zweier
Nazigegner angesichts zu vieler weitergedeihender
Nazis verstehen, so sind der falsche
Gebrauch der psychoanalytischen Affektpsychologie
mit der Verwechslung der Trauer mit
anderen Affekten und die Verleugnung eines grossen
Teiles der historischen Realitaet so
stilbildend wie verheerend gewesen: auch wenn sie
ihren Landsleuten historische Schuld zu
Recht vorwerfen moegen und mit psychoanalytischen
Begriffen vieles im einzelnen treffend
beschreiben, so kommt doch das meiste gar nicht
vor, was die Leute damals bewegte: die
Trauer um zahllose verlorene Angehoerige, um ein
Drittel des Landes und die verlorene
Heimat, um zerstoerte Staedte und Kunstschaetze,
verlorene Positionen, der Kampf gegen
Hunger und ums huchstaebliche Ueberleben sowie die
dringlichste Aufgabe des
Wiederaufbaus nach dem Kriege. Partieller Realitaetsverlust
und kollektiver Selbsthass
wurde den deutschen Intellektuellen verordnet
Wenn man heute deutsche Intellektuelle mit dem Phaenomen
der ungenuegenden
Generativitaet und der Bevoelkerungsabnahme der
Deutschen konfrontiert; die deutsche
Geburtenrate ist eine der niedrigsten auf der Erde,
beziehen sich die haeufigsten Antworten
auf das allgemeine Schicksal von alternden Kulturen,
ganz so, als haetten sie damit
persoenlich nichts zu tun. Die plausible Erklaerung
fuer dieses seltsame Phaenomen ist der
schon erwaehnte verborgene kollektive Selbstbass,
den Frau Mitscherlich-Nielsens fatale
Aeusserung kenntlich gemacht hat. Wie es aussieht,
werden die Deutschen das Problem
mit der Immigration loesen. Dass sie und ihre Kultur
damit sich selbst durch andere Kulturen
und Voelker ersetzen, scheint sie nicht ernsthaft
zu bekuemmern, ja man darf nicht einmal
darauf hinweisen, ohne als reaktionaer zu gelten.
Es ist die deutsche Version dessen, was
Christopher Lasch als die Verantwortungslosigkeit
moderner Eliten beschrieb. Es ist aber
gleichzeitig der Ausdruck einer strengen destruktiven
Moral, die es verbietet, etwas in
Augenschein zu nehmen, was den Nazis wichtig war,
naemlich die Fortpflanzung der
eigenen ,,Rasse", und zwar auch dann, wenn der Gesichtspunkt
der Rasse gar niemanden
mehr interessiert. Wenn wir uns an Sigmund Freuds
Wort aus ,,Das Ich und das Es"
erinnern: ,,Es ist merkwuerdig, dass der Mensch,
je mehr er seine Aggressionen nach
aussen einschraenkt, desto strenger, also aggressiver
in seinem Ichideal wird" (6), so
laesst sich daran anknuepfen: deutsche Moral hat
weithin Zuege eines aggressiven,
negativen Ichideals bzw. Ueberichs, zu dem die kollektive
Selbstverurteilung gehoert, im
Sinne eines latenten melancholischen Mechanismus,
mit dem die internalisierten Vaeter
bestraft werden, denen die boese Vergangenheit angelastet
wird. Dies hat nun
unterschiedliche Folgen: zum einen bietet die deutsche
Gesellschaft ueberwiegend ein
friedliches, ja pazifistisches Bild; welche Wege
jedoch die unterdrueckte Aggressivitaet,
aber auch die unterdrueckten kollektiven Interessen
und Realitaetswahrnehmungen gehen
werden, ob in Richtung radikaler Gegenbewegungen,
ist auf lange Sicht offen. Die
Tabuisierung des Nationalen, der Zerfall der Familien
und die Vernachlaessigung der
Interessen geborener und ungeborener Kinder sind
jedenfalls manifeste, dominierende
Charakteristika der deutschen Gesellschaft in den
letzten Dekaden, und die zu
erwartenden, aber nicht genau voraussehbaren Folgen
erfordern auch deshalb kritische
Vernunft und Wachsamkeit. Die gibt es in Deutschland
allerdings auch.
Literatur
1. Anonymus: Laudatio auf zwei Gute und Gerechte
nebst Nachruf auf einen
stramm-konservativen Neu-Rechten. Psychother. Psychosom.
med. Psychol. 45, 142-146
(1995). - 2. Das Streiflicht, Sueddeutsche Zeitung,
1.XII. 1995. - 3. DER SPIEGEL: Trance
in Bonn, 37, 224-228(1995). - 4. Duehrssen, A.:
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the Wall. Germany, the Germans and the Burden of
History. New York Simon & Schuster,
1995. - 6. Freud, S. Das Ich und das Es (1923):
In: GW XIII, S.235-289. Frankfurt a.M. 5.
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Jessen, J.: Das Experiment. Zweierlei Rede:Jgnatz
Bubis sprach 1989 Jenningers Text.
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Kieler Nachrichten: Wieder Wirbel um
,,Franzi". 24.VIII.1995. - 10.Kummer, J.: ,,Ist
das hier eine Landeshauptstadt oder die
Augsburger Puppenkiste?" Welt am Sonntag, 13.VIII.1995.
- 11. Lasch, ch.: The Revolte of
the Elites. London Norton 1995. - 12. Lessing, Th.:
Der juedische Selbsthass. Berlin
Juedischer Verlag 1930. - 13. Mitscherlich, A. u.
M.: Die Unfaehigkeit zu trauern. Muenchen
Piper 1967. - 14. Rushdie, S.: Die satanischen Verse.
Artikel 19 Verlag 1989. - 15. Speidel
N.: Tabus von heute - Probleme von morgen. Psychother.
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,,Der Muell, die Stadt und der
Tod - eine deutsche Seelenlandschaft. Psyche XLIX,
309-372 (1995). - 17. Walser, M.:
Ueber freie und unfreie Rede. DER SPIEGEL 45, 130-138
(1994). - 18. Zundel R.: Keine
friedfertige Frau. Zwischen Psychoanalyse und Politik
- und zwischen allen Stuehlen. DIE
ZEIT 30, 49 (1987). Anschr. d. Verf.: Prof. Dr.
Hubert Speidel, Klinik fuer Psychotherapie
undPsychosomatik der Christian-Albrechts-Universitaet
zu Kiel, Niemannsweg 147, 24105
Kiel. Zsch. psychosom. Med. 42,193, ISSN 0340-5613
© Vandenhoeck a Ruprecht 1996"
Der Psychoanalytiker Dr.Michael Schroeter schreibt
in der angesehenen
psychoanalytischen Zeitschrift "Psyche":
"Das 'Hier stehe ich, ich kann nicht anders' (...)
bezeugt die protestantische Tradition (von
C.G.Jung und den Seinen Anm.JSB) einer mehr individualistischen
Gewissensbildung, zum
Unterschied von einer mehr solidarischen, die fuer
Juden typisch sein mag (von Freud und
den Seinen. (Anm.JSB). In alledem liegt eine soziologische
Frage, die durch den
moerderischen Missbrauch, der mit ihr getrieben
wurde, nicht eo ipso diskreditiert ist.
(Schroeter, Michael In:Freuds Komitee 1912-1914,
PSYCHE 6, 1995, S.533)
Damit sagt Schroeter, dass Freud und andere Juden
eigentlich kein Gewissen haetten,
sondern sich opportun nach ihren juedischen Gruppeninteressen
verhalten haetten,
dagegen steht C.G.Jung fuer den ehrlichen Arier.
Hier finden wir das antisemitische
Schema wieder, des verschlagenen Juden und des ehrlichen
Ariers.
In alledem liegt eine soziologische Frage nach dem
latenten Antisemitismus deutscher
Psychoanalytiker, die ebenfalls nicht eo ipso diskreditiert
ist.
Sapienti sat. |